Windstille im Geist

Die vier Phasen der spirituellen Entwicklung

Ich erinnere mich noch sehr genau. 

An die Schmerzen. Die Verzweiflung. An die Wut. 

An die Stimmen in meinem Kopf, die mich regelrecht angeschrien haben: „Wie lange soll das noch dauern? Das ist ja nicht zum Aushalten! Es tut so weh! Das kann doch nicht gesund sein! Was hast du dir nur dabei gedacht, dich zu einem Zen-Sesshin anzumelden?“

Am dritten Tag war dann endgültig Schluss, und ich bin tatsächlich abgereist. 

Mein erstes Retreat war also ein Fiasko.

Aber einige Monate später war ich wieder da.

Irgendetwas zog mich an. 

Aber: Zen war für mich anfangs eine schwierige Beziehung.

Zuhause sehnte ich mich nach einem Retreat. 

Sobald ich aber im Retreat war, sehnte ich mich wieder zurück nach Hause. 

Das Sitzen fiel mir echt schwer. Es war nicht nur unangenehm, sondern äußerst schmerzhaft. Ich litt Höllenqualen.

Während die anderen regungslos und still wie Buddhas im tiefsten Samadhi dazusitzen schienen, zählte ich die Sekunden. 

Doch trotz all des inneren Widerstands zog mich irgendetwas zur Praxis, kam ich immer wieder zurück. Frag mich nicht warum!

Irgendetwas war stärker als meine Vernunft. Stärker als mein Widerstand. Stärker als meine Abwehr.

Irgendetwas zog mich an und berührte mich.

Trotz dem ganzen Drama.

Ich erinnere mich auch, dass da nicht nur Wut und Verzweiflung war.

Da war auch Ärger. Es ärgerte mich, dass mir niemand wirklich erklären konnte, was wir hier genau taten. 

Einfach nur sitzen? Ohne Zweck? Ohne Ziel?

Warum dieses stundenlange Sitzen vor einer Wand? Warum die endlosen Verbeugungen und das Schweigen? Und warum durfte man sich während der Sitzmeditation nicht einmal die Nase putzen?

Dann, nach ein paar Tagen, ich war müde, erschöpft und schon ziemlich weichgekocht, geschah etwas seltsames.

Und zu einem Moment, in dem ich es gar nicht erwartete. 

Wir machten gerade Gehmeditation im Freien. 

Plötzlich war da ein Moment. Wie soll ich sagen? Ein Moment der Stille. Eine Art Windstille im Geist. 

Es war nichts Spektakuläres. 

Es war ein Moment … des Staunens. 

Plötzlich war der Lärm weg. Kein Geschrei mehr im Kopf. Kein Getöse. Kein Klagen. Kein Jammern. Einfach nur Stille. 

Ich war da. Bei mir selbst. Konnte mich einfach nur spüren. 

Es fühlte sich an wie eine Art Schwerelosigkeit. 

Staunend betrachtete ich die Welt um mich herum.

Ich konnte sehen, wie sich in einem ganz normalen Tautropfen der ganze Himmel spiegelt.

Es dauerte nicht lange, und der Moment war wieder weg. 

Der übliche Lärm im Kopf kehrte zurück. Und die Schmerzen. Und die Schwerkraft. 

Und doch war etwas anders. Hatte sich etwas verändert. 

Was war das gerade geschehen? Wie war das passiert? Und vor allem: Wie konnte ich das wiederholen?

Ich suchte nach Erklärungen.

Aber leider: Fehlanzeige.

Die Lehrer sagen nichts. 

Die Bücher auch nicht.

Egal.

Ich hatte Witterung aufgenommen.

Ich machte weiter. 


Viele Jahre später hörte ich dann von den vier Phasen der spirituellen Entwicklung:

Phase 1:
 Am Anfang deines Weges denkst du nur an dich. Du stehst ganz allein im Mittelpunkt deiner kleinen Welt. Die anderen sind dir ziemlich egal. Es geht vor allem um dich und dein Wohlbefinden. Spiritualität spielt keine Rolle.

Phase 2:
 Du entdeckst Spiritualität und beginnst damit, zu experimentieren. Du siehst sie als Mittel, um dein Wohlbefinden zu steigern. Vielleicht könnte sie dir helfen, deinen Durst nach Sinn, Nähe und Frieden stillen. Aber dein Ego bleibt nach wie vor an erster Stelle.

Phase 3:
 Die spirituelle Praxis gewinnt allmählich an Bedeutung in deinem Leben. Sie entfaltet immer mehr Wirkung und gibt dir Kraft und Orientierung, während dein Ego langsam in den Hintergrund tritt.

Phase 4:
 Du erkennst, dass genau das die kostbarste Art und Weise ist, dein Leben zu leben: in inniger Umarmung und Verbundenheit mit dem großen Geheimnis. Und du richtest dein Leben daran aus.

Ich finde es sehr hilfreich, diese Phasen zu kennen, besonders in schwierigen Momenten. 

Doch das Wichtigste ist, nicht aufzugeben und mit der Praxis weiterzumachen.

Bist du heute schon gesessen?