Manfred Hellrigl

Mit neuen Augen sehen

Unser (damals noch) kleines Kind hat Fieber.

Sogar ziemlich hohes Fieber.

Immer wieder messen wir die Temperatur.

Aber es wird nicht besser.

Irgendwann halten wir die Spannung nicht mehr aus und bringen es zu unserem Hausarzt.

Der ist eine ziemlich coole Socke.

Er misst nicht einmal die Temperatur.

Stattdessen untersucht er das Kind sorgfältig.

Und schickt uns dann nach Hause.

Schon auf dem Heimweg geht es dem Kleinen deutlich besser.

Wir haben damals zwei wichtige Dinge gelernt.

1. Vertrau nicht nur darauf, was Messgeräte anzeigen, sondern achte auch darauf, was du sonst noch wahrnehmen kannst.

Denn manchmal ist die Körpertemperatur zwar hoch, aber das Kind kommt erstaunlich gut klar damit. Und umgekehrt. 

Das nimmt viel Druck raus und stärkt den Hausverstand. 

Deine fünf (oder sechs) Sinne erfassen manchmal Dinge, die ein Messgerät nicht erfassen kann.

Sei also möglichst wach und aufmerksam für die gesamte Situation. Nicht nur ein Detail.

Diese Erkenntnis war wichtig. Aber noch wichtiger war:

2. (Kinder-)Krankheiten sind zwar unangenehm. Aber sie sind manchmal nicht nur schlecht. 

Eine überstandene Krankheit oder Krise kann nämlich einen regelrechten Entwicklungsschub auslösen. 

Das konnten wir bei unseren Kindern immer wieder beobachten. Danach waren sie oft anders. Reifer. Einen Schritt weiter in ihrer Entwicklung.

Klaro.

Wir wünschen uns weder Krankheiten noch Krisen.

Trotzdem gibt es sie.

Und sie können der Moment sein, wo wir einen Entwicklungsschritt machen.

Ein Moment, in dem wir aufwachen.

Was kannst du tun, wenn du nichts mehr tun kannst?

Wenn es eng wird.

Wenn es kein Entkommen mehr gibt.

Wenn du mit der Realität konfrontiert wirst.

Worin nimmst du dann Zuflucht?

(Oder machst du dann immer noch Augen und Ohren zu und wünschst du dir nur, dass alles wieder so ist, wie es eben noch war?)

Kannst du dann die Wirklichkeit annehmen, wie sie ist?

Den Schmerz.

Das Leiden.

Die Ausweglosigkeit.

Ist es dir möglich, dann ruhig zu bleiben?

Da zu bleiben.

Den Schmerz da sein zu lassen?

Zu erwachen bedeutet, sich selbst und die Welt mit neuen Augen zu sehen.

Bist du heute schon gesessen?