Vor kurzem hatte ich eine Frage in unsere Runde gestellt, die viele von uns beschäftigt: Wie gelingt es, sich immer wieder zur Praxis zu motivieren?
Zuerst einmal ein großes Dankeschön an alle, die mir geschrieben haben! War echt spannend, eure Antworten zu lesen!
(Danke aber auch an die, die vielleicht nicht geschrieben, aber darüber nachgedacht haben. 😇)
Eure Antworten zeigen jedenfalls ein breites Spektrum an Erfahrungen und Einsichten.
Und was ich aus den Emails herauslese, geht weit über individuelle Motivationsstrategien hinaus.
Der Weg-suchende Geist
Wenn man genauer hinschaut, und auch ein wenig zwischen den Zeilen liest, dann taucht etwas auf, das man in Zen-Kreisen den „Weg-suchenden Geist“ nennt.
Dieser Weg-suchende Geist ist eine geheimnisvolle, in uns schlummernde Kraft, die uns – oft auf verschlungenen Wegen! – zur Praxis ruft.
Anfangs kann es gut sein, dass wir diese innere Stimme überhören.
Trotzdem ist sie da. Trotzdem spricht sie zu uns.
Mach dir keine Sorgen! Sie lässt nicht locker, auch wenn du versuchst, sie zu ignorieren. 😂
Geduldig lädt sie uns immer wieder ein, endlich den Weg nach innen einzuschlagen.
Wenn wir uns beharrlich weigern hinzuhören, kann es gut sein, dass sie ihren Ton ändert.
Aus der Not geboren
Nicht selten kommt dann die Einladung in Form einer Krise. Eines Schicksalsschlages. Oder einer Krankheit.
So beschreibt Thomas eindrücklich, wie ihn sein Tinnitus zur Praxis führte.
In tiefer Verzweiflung darüber, „dass von außen keine Hilfe zu erwarten ist“, entdeckte er irgendwann im Sitzen einen Weg, etwas zu tun, obwohl man eigentlich gar nichts tun kann!
Und wie er auf diese Weise eine befreienden Erkenntnis gewinnen konnte: Egal, was ihm das Leben serviert – dieser Weg nach innen steht ihm überall und jederzeit zur Verfügung!
Die Befreiung vom Müssen
Ein anderes wiederkehrendes Thema ist die Befreiung vom „Müssen“. So beschreibt Bertram, dass er sich nicht dazu zwingt, jeden Tag zu Sitzen.
Stattdessen gestattet er sich selbst – der auch schon seit vielen Jahren praktiziert – eine flexible Routine. Denn: „Wenn ich das Gefühl bekomme, ich sollte, dann regt sich meist auch der Widerstand.“
Diese Einsicht findet sich in verschiedenen Variationen.
Raphael spricht in diesem Zusammenhang von einer Entwicklung von „strenger“ zu „liebevoller“ Disziplin: „Manchmal ist es eine strenge Disziplin (Keine Ausreden, setz Dich hin.) aber immer öfter eine liebevolle Disziplin (Erlaube Dir, Dich hinzusetzen. Das ist Deine Zeit.)“
Moni ergänzt diese Perspektive um den Aspekt der Selbstfürsorge. Für sie war es „die Einsicht, dass ich mir selbst etwas Gutes tun möchte. Meine Selbstfürsorge wurde geweckt.“
Unter Strich bleibt die Erkenntnis: Die Praxis gedeiht besser, wenn sie nicht aus einem Pflichtgefühl heraus geschieht, sondern als liebevolle Zuwendung zu uns selbst verstanden wird.
Die Kraft der kleinen Inseln
(Ein anderer) Thomas erzählte mir, dass für ihn auch kürzere Sitzperioden sehr wertvoll sein können. „15 bis 20 Minuten. Nicht viel, aber es tut gut. Eine kleine Klangschale, ein Hocker. Das ist manchmal eine kleine Insel.“
Auch diese kleinen „Inseln der Praxis“ können im Alltag kostbare Ankerpunkte der Ruhe und Besinnung werden, wenn du nach einem anstrengenden Tag wieder zu dir kommen möchtest.
Von der äußeren zur inneren Motivation
Besonders berührend finde ich die Perspektive einer wirklich erfahrenen Praktizierenden, die schon viele Jahrzehnte übt, und die gewissermaßen das andere Ende des Spektrums beleuchtet.
Und in ihrer Beschreibung auch gleich unsere gewohnte Sichtweise auf den Kopf stellt:
„ES bin nicht ICH, die es schafft, immer wieder zu sitzen; ES schafft MICH immer wieder zu sitzen.“
In dieser Umkehrung der Blickwinkels kommt der „Weg-suchende Geist“ vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck: Wenn die Praxis reift, wandelt sich auch unsere Beziehung zu ihr (und unsere Beziehung zu uns selbst!) grundlegend – von etwas, das wir tun „müssen“, zu etwas, das durch uns geschieht.
Nicht ich sitze, sondern ES sitzt mich. ES atmet mich. Und mein kleines ICH darf Ferien machen.😀
Der Sangha als tragende Kraft
Ist das nicht erstaunlich?
Wir sitzen scheinbar alleine vor einer Wand, und machen die erstaunliche Entdeckung, dass wir gar nicht getrennt vom Rest der Welt existieren.
Vielmehr sind wir ganz intim mit allen Wesen und Orten aufs Innigste verbunden.
Das zeigt auch durch die Rückmeldung von Kathrine, die betont, wie wichtig für sie die Gemeinschaft der Übenden ist.
Die Begegnung und das gemeinsame Praktizieren mit gleichgesinnten Menschen, die sich mit uns auf dem Weg befinden, ihre „Ausstrahlung“ und ihr Beispiel können uns inspirieren und Kraft geben.
Die Sangha als Kraftquelle, die uns hilft, über uns selbst hinauszuwachsen: Das kann man praktisch bei jedem Sesshin beobachten.
Wer von uns wäre in der Lage, einen ganzen Tag, eine ganze Woche mausalleine durchzusitzen?! Dazu brauchen wir einander!
Die Praxis als Entdeckungsreise
Was in vielen Antworten durchscheint, ist eine allmähliche Verwandlung: Was vielleicht einmal als Suche nach Entspannung, innerer Ruhe oder als Weg aus einer Krise begann, verwandelt sich zu einer fortwährenden Entdeckungsreise.
Mehrere von euch beschreiben, wie wir uns selbst, aber auch die Übung über die Jahre verändern.
Immer wieder tauchen neue Einsichten auf.
Immer wieder haben wir das Gefühl, endlich verstanden zu haben, worum es wirklich geht.
Ohne, dass wir jemals in der Lage wären, die wahre Tiefe des Übungsweges auch nur annähernd auszuloten.
Ein lebendiger Prozess
Eure Antworten zeigen mir deutlich: Der Weg zur regelmäßigen Praxis ist kein linearer Prozess.
Höhen und Tiefen wechseln sich ab, genauso wie Phasen größerer und geringerer Intensität.
Entscheidend scheint zu sein, was Kathrine beschreibt: das wachsende „Vertrauen, dass wenn ich aus der täglichen Routine herausfalle, ich den Zugang dazu schon wieder finde.“
Einladung zum Experiment
Was können wir aus diesen Erfahrungen lernen?
Vielleicht dies: Es gibt nicht den einen richtigen Weg.
Was uns trägt, ist so individuell wie unser Leben selbst.
Die Kunst liegt darin, unseren eigenen Rhythmus zu finden, unsere persönliche Art, die Praxis in den Alltag zu integrieren.
Raphael beschreibt, wie hilfreich dabei eine klare Struktur sein kann: „Wenn der morgendliche Ablauf immer relativ gleich ist und Zazen ein Bestandteil davon ist, dann fühlt es sich komisch an, sobald das ausfällt.“
Gleichzeitig beobachtet er, wie sich die Praxis auch in den Alltag hinein ausdehnt: „Das Innehalten immer wieder während des Tages kommt zunehmend von selbst.“
Susanna drückt es so aus: „Es scheint ein lebenslanger Pfad zu sein, den man zu SICH in der Stille geht.“
Ein Pfad, auf dem sich der „Weg-suchende Geist“ immer deutlicher zeigt – ein Pfad, der sich mit jedem Schritt neu erschließt, der uns immer wieder überrascht und der – vielleicht gerade deshalb – nie langweilig wird.
In diesem Sinne lade ich dich ein: Experimentiere weiter mit deiner Praxis. Lass dich von den Erfahrungen anderer inspirieren. Aber finde und gehe deinen eigenen Weg.
Bleib dran. Hör auf die Stimme in dir.
Manchmal sind es gerade die unerwarteten Wendungen, die überraschenden Entdeckungen, die uns weiterbringen.
Bist du heute schon gesessen?